"Alles auf Zucker" - Welt-Artikel mit Philip Hitschler-Becker

Unter dem Titel „Alles auf Zucker“ hat die Welt am 06.02.2021 einen Artikel mit Philip Hitschler-Becker veröffentlicht. Ein Bericht von Till Uebelacker:

“Alles auf ZUCKER ”

Philip Hitschler-Becker fühlt sich auf dem neuen, modernen Firmengelände in Hürth ganz offensichtlich wohl. Er strahlt unentwegt, jeder wird geduzt. Früher wurden hier TV-Sendungen produziert, heute ist es das Büro des Kölner Süßigkeitenherstellers Hitschler.

Von außen ist alles komplett verglast. Große Industrielampen hängen von der Decke, in der „Library“ stehen grüne Retrosessel. Gearbeitet wird auf  offenen Flächen. Das Büro des Chefs hat keine Tür, Wasserschale und Fressnapf für die Bürohündinnen Emma und Lotti stehen davor. „Gemeinsam haben wir eine neue Unternehmenskultur geschaffen“, sagt Hitschler-Becker. Auch die IT sei nun fit für das 21. Jahrhundert. Und ganz nebenbei habe er im CoronaJahr den Umzug auf den neuen „Hitschler-Campus“ durchgezogen.

Dabei war 2020 kein einfaches Jahr für die Süßwarenbranche. In der Corona-Krise brachen viele Betriebskanäle weg, darunter Flughäfen, Volksfeste und das Weihnachtsgeschäft. „Unsere Produkte sind zum Beispiel in Bahnhofsautomaten“, sagt Hitschler-Becker. Doch kaum jemand fährt noch mit der Bahn und holt sich Süßes für zwischendurch. Der Umsatz sank. „Wir sind einige Wochen in Kurzarbeit gewesen, bei vollen Bezügen“, sagt Hitschler-Becker, doch aus seinem Mund hört sich auch das wie eine positive Nachricht an. Wie viele Mitarbeiter genau betroffen waren, will er nicht sagen.

56 Prozent der Unternehmen in der Branche klagten über Umsatzrückgänge im ersten Halbjahr, 62 Prozent über eine verschlechterte Auftragslage und sogar 65 Prozent über sinkende Gewinne, wie Zahlen des Verbands der Süßwarenindustrie (BDSI) ergeben. Doch die Probleme der Süßwarenhersteller gehen über die Corona-Delle hinaus. Wissenschaftler und Ärzte warnen vor Süßem. Diabetes ist zu einer Volkskrankheit geworden, immer mehr Kinder sind betroffen.

In Deutschland gibt es etwa acht Millionen Menschen, die an Diabetes erkrankt sind. Pro Jahr kommen etwa 600.000 Menschen hinzu, wie der Deutsche Gesundheitsbericht Diabetes zeigt. Und im Alter steigt das Risiko. Auslöser können Erbanlagen, mangelnde Bewegung, Übergewicht und falsche Ernährung sein. Die Deutschen essen im Jahr pro Kopf knapp 30 Kilogramm Süßigkeiten. Mehr als die Hälfte der Menschen ist übergewichtig, fast ein Viertel fettleibig. Laut Bundesgesundheitsministerium ist bereits knapp jedes zehnte Kind übergewichtig, 5,9 Prozent sind sogar adipös.

Die Lebensmittelindustrie und die Bundesregierung einigten sich 2018 zwar auf eine freiwillige Selbstverpflichtung, um den Salz-, Zucker- und Fettgehalt in Fertigprodukten zu senken, wie die „Nationale Reduktionsstrategie“ von Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) vorsah. Doch den Verbraucherzentralen und der Nichtregierungsorganisation Foodwatch reicht das nicht. Es brauche verbindliche Regeln, eine Ausweitung auch auf andere Produkte wie Süßwaren und eine bessere Kennzeichnung der Produkte.

„Wenn die freiwillige Zuckerreduzierung um zehn Prozent nicht gelingt, wird die Regierung wahrscheinlich weitere Maßnahmen in Betracht ziehenn“, sagt Karin von Funck, Konsumgüterexpertin der Boston Consulting Group. Die Branche fürchtet daher, in Zukunft ähnlich wie die Tabakindustrie behandelt zu werden: mit Werbeverboten, einer strengen Lebensmittelampel oder einer Zuckersteuer.

Philip Hitschler-Becker sieht dennoch keine Probleme – „nur Challenges“, Herausforderungen. Der 33-Jährige hat das Familienunternehmen vor drei Jahren übernommen und führt es nun in vierter Generation. Um die „Challenges“ anzugehen und moderner zu werden, habe er ein paar junge Leute eingestellt, sagt er. Einige Mitarbeiter haben das Unternehmen freiwillig verlassen oder gehen bald in Rente. Allerdings sei es „schwer, Talente zu gewinnen,“ sagt Hitschler-Becker. Er glaubt jedoch, mit dem neuen Standort ein gutes Argument zu haben. In der heutigen Arbeitswelt gehe es darum, „etwas mit Sinn zu tun und etwas zu hinterlassen“. Hitschler als nettes Familienunternehmen sei dafür genau die richtige Adresse. „Hier hast du noch Gestaltungsspielraum“, verspricht der Chef.

Um zu bestehen, hat Hitschler-Becker den Kulturwandel in dem traditionsreichen Unternehmen umgesetzt. Begonnen hatte es Ende der 1920er-Jahre mit seinem Urgroßvater Ferdinand Hitschler und dem Handel mit Tabak und Cachous – kleinen Lakritzbonbons – eigentlich eine Spezialität aus Frankreich. Mitte der 1930er-Jahre gründete Ferdinand Hitschler dann das Kölner Handelsunternehmen „Hitschler’s Cachou“. Der Großvater des heutigen Geschäftsführers, Walter Hitschler, prägte das Unternehmen mit seiner strengen Art dann über viele Jahrzehnte.

Die Erweiterung des süßen Sortiments ging weiter, Kaugummi und andere Süßigkeiten kamen dazu. Ein wichtiger strategischer Schritt war der Kauf und anschließende Ausbau der „1. Deutschen Kaugummi-Fabrik“ im hessischen Odenwald in den 1950er-Jahren. Am Standort in Michelstadt befindet sich bis heute die Produktion. Das Familienunternehmen hat etwa 140 Mitarbeiter, 50 davon in Hürth, etwa 90 am Produktionsstandort in Michelstadt. „Mein Opa hat bis zum Schluss an einer Anzugs- und Krawattenpflicht im Büro festgehalten“, sagt Hitschler-Becker. Im Jahr 2010 verstarb er.

Trotz aller Unterschiede war er der Mentor des jungen Mannes. „Ich hatte ein enges Verhältnis zu ihm.“ Sieben Jahre wird das Unternehmen von
Fremdgeschäftsführern gemanagt, dann steigt Enkel Philip ein. Heute hat die Hitschler International GmbH mit einem Umsatz von etwa 38 Millionen Euro einen kleinen Teil des Kuchens in der knapp 13 Milliarden Euro schweren Branche. Hitschler-Becker bezeichnet sein Unternehmen gerne als „Hidden Champion“. Die wichtigsten Produkte sind Ufos, Speck, Hitschies, Kaubonbons und Fruchtgummi. Eine Packung mit bunten Drachenzungen oder sauren „Hitschies“ kostet zwischen 99 Cent und 1,50 Euro. Immer mehr Supermärkte und Discounter produzieren jedoch Eigenmarken und machen es großen und kleinen Familienunternehmen von Haribo bis Hitschler zunehmend schwerer. Der Preisdruck auf kleinere Unternehmen ist enorm. Selbst für einen großen Konzern zu produzieren ist für Hitschler aber schwer vorstellbar. „Eigenmarken liegen derzeit nicht im Fokus der Strategie“, sagt der Chef.

Die eigene Vermarktung dagegen schon: Jeden Tag bespielt er selbst die Instagram-Seite des Unternehmens. Man kann ihn beobachten, wie er seine beiden Hündinnen füttert oder eine Kooperation mit einer Influencerin vorstellt. Das verfolgen immerhin 53.000 Abonnenten. Zum Vergleich: Konkurrent Katjes folgen nur 29.000 Menschen, und das bei sechsfachem Umsatz. Haribo hat bei einem mehr als 50-fachen Umsatz gerade einmal doppelt so viele Follower.

Hitschler-Becker lieber nicht. Doch auf Instagram und Onlinemarketing zu setzen erscheint schlau, insbesondere für einen jungen Boss wie den 33-Jährigen. Wie stark es dem Unternehmen auch beim Umsatz hilft, bleibt abzuwarten. Gerade hat die Familie einen Werksverkauf am neuen Hitschler-Campus eröffnet. Das sei wichtig, um „die Marke zum Anfassen“ zu stärken. Hitschler-Becker will neue Absatzmärkte erschließen und seine Ideen aus dem Studium und anderen Firmen einbringen. Er hat BWL in Holland und Australien studiert und zunächst bei den Lebensmittelherstellern Iglo und Danone gearbeitet. Bis 2023 will er alle Produkte von Gelatine befreien, „Halal“-Produkte für die muslimische Zielgruppe sind ihm wichtig. Zudem will er Plastik reduzieren.

Und das Familienunternehmen wird sich in Zukunft weiter verändern, denn die jüngeren Geschwister sollen den großen Bruder bald unterstützen: Die kleinere Schwester – bisher bei Amazon – tritt bald in das Unternehmen ein. Wäre es bei so viel Modernisierung nicht konsequent, auch den Zucker in den Produkten zu reduzieren? Philip Hitschler-Becker muss nicht überlegen, sondern sagt lächelnd: „Ich stehe zum Zucker."